Aus meiner heutigen Sicht erscheint die deutsche Wiedervereinigung (wie auch der Zusammenbruch der Sowjetunion) wie eine Art wundersame Erlösung, die im heutigen Deutschland noch nicht in vollem Umfang wahrgenommen wurde. Vor allem in Ostdeutschland ist vielen nicht bewusst, dass sie vielleicht schon bald für die unblutige Befreiung vor 33 Jahren zur Kasse gebeten werden.
In Russland wird die nächste Generation mit Geschichtsbüchern aufwachsen, die die Wiedervereinigung Deutschlands als Annexion und den Abzug der russischen Besatzungstruppen als großen Fehler darstellen. Russische Politiker und Propagandisten drohen bereits unverhohlen mit einer neuen Okkupation. Diejenigen, die sich heute gegen Waffenlieferungen aussprechen und vorschlagen, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums abgibt, laden die russischen Okkupanten dazu ein, nach Ostdeutschland zurückzukehren, und sie können sicher sein, dass diese Aufforderungen auf der anderen Seite durchaus hörbar sind.
Die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung wird nicht dann zu Ende sein, wenn die Ossis all das Unrecht vergessen, das ihnen von den Wessis angetan wurde, oder wenn sich die Löhne in West und Ost angleichen, sondern erst dann, wenn Russland als atomar bewaffnetes Imperium, das keine Grenzen kennt, aufhört zu existieren. Bis dahin wird Deutschland seinen eigenen Existenzkampf führen müssen. Heute geschieht das in Form von Waffenlieferungen an die Ukraine, und mit jeder Verzögerung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass morgen deutsche Soldaten die russische Aggression abwehren und einfache Menschen sich in Kellern vor russischen Raketenangriffen verstecken müssen.
An diesem Tag möchte ich diejenigen, die heute die Grünen als ihre Hauptfeinde bezeichnen und „aus Protest“ für die von Putin bezahlten Rechtsextremen stimmen, bitten, darüber nachzudenken, wo sie ihren Platz in diesem zwar schrecklichen, aber sehr realen Szenario sehen würden.